Sehnsucht

Mein Herz ist schwer und sorgenvoll.

Mein Atem geht flach und mühselig. Es ist als würden alle Sorgen und all der Schmerz mir die Luft nehmen. Mich lähmen und erstarren lassen.

Das einzige Zeichen von Lebendigkeit, sind die Tränen, die über mein Gesicht laufen. Meine Hände können sie nicht auffangen – sie liegen regungslos, fast wie unbeteiligt in meinem Schoß.

Meine Muskeln sind müde, wie versteinert. Das letzte bisschen Kraft scheint entwichen zu sein und es fühlt sich an, als wäre kein Leben mehr in Ihnen. Mein Körper nur noch eine Hülle. Kein Werkzeug mehr, das mich befähigt – nur noch Substanz, die den inneren Kern zusammenhält.

Mein Geist ist voll und wird überschwämmt von Fragen, die wie ein Quälwerk alles zermalmen, was jemals Bedeutung gehabt hat. Der Vergleich macht alles zu Nichte, tötet jedes Quentchen Glück und lässt mich fast verzweifeln. Immer wieder ist da die Frage nach dem Sinn? Die Frage, wozu das alles gut ist und was mir das Leben sagen will? Die Antworten bleiben stumm.

In all dem Nebel suche ich nach Halt und nach Antworten. Meine Orientierungslosigkeit zwingt mich dazu inne zu halten, hinzuspüren. In mich zu gehen und zu forschen – weg vom Außen, hin zum Inneren. Ich finde den Punkt, wo es am meisten weh tut. Er ist da, wo die Sehnsucht und die Angst dicht gepaart nebeneinander sitzen.

Die Sehnsucht nach körperlicher Unversehrtheit.
Die Angst vor dem Fortschritt und dem Verlust.

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit und Unbeschwertheit.
Die Angst vor Erschöpfung und Verzweiflung.

Die Sehnsucht danach dazu zu gehören und gleichwertig zu sein.
Die Angst davor isoliert und allein zu sein.

Die Sehnsucht danach meine Worte zu verschwenden, anstatt sie sorgfältig auszuwählen.
Die Angst davor meine (innere und äußere) Stimme zu verlieren.

Die Sehnsucht danach meine Hand auszustrecken und dich zu berühren, frei und hemmungslos.
Die Angst davor, irgendwann ins Leere zu greifen und daran zu zerbrechen.

Die Sehnsucht danach mich frei zu bewegen, zu tanzen und das Glück zu spüren, welches das Blut ungefiltert durch meine Adern pumpt.
Die Angst davor gefangen zu sein in mir selbst und den Zugang zum Glück zu verlieren.

Die Sehnsucht nach Stille in meinem Kopf, nach Annahme und Akzeptanz.
Die Angst vor Widerstand und Kampf.

Die Sehnsucht nach dem Leben.
Die Angst vor dem Tod.

„Vielleicht“ flüstert eine leise Stimme in meinem Kopf, „muss man alles verlieren, um alles zu besitzen. Vielleicht müssen die leidvollen Momente, genauso ihren Platz im Leben haben, wie die glücklichen Momente, damit man eben diese in Dankbarkeit annehmen kann. Vielleicht geht es nicht darum, was war oder was einmal sein wird, sondern darum was jetzt grade ist und genau das vertrauensvoll anzunehmen. Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem wir uns selbst erkennen. An dem wir verstehen, wie das Leben wirklich gemeint ist.“

Ich denke darüber nach und langsam aber sicher überkommt mich ein Gefühl von Trost und Geborgenheit und ich fühle mich den Antworten viel näher als den Fragen.

18 Comments

  • Ellen Wilken

    Liebe Nina! ich habe deine Worte über die Sehnsucht gelesen und sie berühren mein Herz zu tiefst. Gleichzeitig spüre ich wie sehr du bewußt bist, so geöffnet für deine Gefühle, für das ganz feine Spüren nach innen, für die Wahrnehmung der wesentlichen Dinge im Leben. Du hast ein viel größeres Verständnis vom Leben, von der Kostbarkeit des Lebens als viele andere. Du bist in deiner geistigen und seelischen Entwicklung durch deine Erkrankung so viel mehr gereift und hast so tief gehende Erkenntnisse!
    Danke, dass du deine Gedanken, deine Gefühle mitteilst, sie mit der Welt teilst und die Kommentare zeigen dir wie du mit deinen Worten Menschen berührst. Deine Lebens-Erfahrung ist von großer Bedeutung, du hast unbeschreiblich weise Erkenntnisse. Aus deinen Erkenntnissen können wir viel lernen.
    Wie oft beschäftigen sich Menschen, die alles haben mit Belanglosigkeiten……
    Du entbehrst so vieles und das ist wirklich schwer, aber du trägst in dir einen so reichen Schatz an Wissen um das was wesentlich ist.
    Ich danke dir, dass du mich teilhaben lässt an deinem Leben und habe eine große Hochachtung vor dir, wie du dein Leben meisterst!
    Sicherlich kennst du den Zenmeister und Friedensaktivisten Teich Hat Hanh. Er drückt mit anderen Worten aus, was du erfahren hast. Er sagte:
    Wirkliches Leben erfahren wir nur im Hier und Jetzt.
    Die Vergangenheit ist schon vorüber,
    die Zukunft ist noch nicht da.
    Nur im gegenwärtigen Augenblick können wir das Leben wirklich berühren.

    “Du fühlst dich den Antworten viel näher als den Fragen und Trost und Geborgenheit überkommt dich,” ist dein letzter Satz. Ich höre und spüre daraus, Deine Seele kennt den tiefen Frieden, sie nimmt an, was unannehmbar ist.
    Ich umarme dich von ganzem Herzen
    deine Ellen

  • ilona

    Liebe Nina, danke, dass Du mit Deinen Texten die Zeit für einen Moment anhält…. Sehnsucht, ein Wort das mich immer an das Zitat von Platon erinnert: “Waren wir nicht einmal eins, bevor die Götter uns auseinander rissen und in die Welt warfen… und nun suchen wir uns voller Sehnsucht”… dieser Satz, der oft mit dem Symbol Ying und Yang, 2 Kugelhälften, jede einzeln, die doch zusammen gehören. Es geht um die Ganzheit !
    —- Und da fällt mir wieder ein, dass ich Dir in den letzten Tagen noch auf den wunderschönen Text mit dem Disco-Erlebnis schreiben wollte… aber vielleicht habe ich mich nicht getraut.
    Eines darf man wohl sagen: Du bist viel körperlicher als viele andere. Deine Sinne sind viel wacher und Du bist Dir -indem was Du nicht mehr kannst- so vielem bewußt, was du nicht mehr wie selbstverständlich kannst.

    Wie viele von den Menschen haben einen gesunden Körper und “spüren” oder “leben” ihn nicht mehr. Wieviele sind sich nicht mal bewußt, was für sie selbstverständlich ist ?

    Aber Du – Du möchtest streicheln – und kannst es kaum noch.
    Du hast noch diese großen Gefühle und den Sinn dafür, statt gefangen zu sein – im Muss und im Wettbewerb.
    Du machst uns in so vielen Dingen noch etwas vor, weil Du nicht am Leben vorbei lebst.

    Deine Gedanken an die Zukunft sind traurig und schwer, aber Deine Bewunderung für das Leben ist noch mehr da als bei vielen, die Dir lange schon weglaufen.

    Du, Du träumst noch davon, dich frei zu bewegen und vor Glück zu tanzen, aber andere, die es könnten, verschwenden nicht mal einen Gedanken daran, es zu tun.

    Du bist Dir Deines Körpers viel bewußter und der Zeit, bewußt zu sein, der Zeit zu genießen, der Endlichkeit der Zeit auch…. alle meinen “Es ist ja noch Zeit” und leben am Leben vorbei.

    Trotz all Deiner Warums und Trauer, Du siehst so viele Dinge, die andere nicht mehr sehen können.
    Und indem Du schreibst und sprichst, werden wir wieder sinnlicher, fangen wir wieder an zu leben…. Da werden wir wieder ganz und kommen in Einklang. Ich zitiere nochmal Hildegard von Bingen:

    3 Pfade hat der Mensch in sich, in denen sich sein Leben verwirklicht:
    Die Seele, den Leib und die Sinne.
    Die Seele belebt den Leib
    und leitet auch in die Sinnen den Lebenshauch.
    Der Leib zieht die Seele an sich und öffnet die Sinne.
    Diese schließlich berühren die Seele
    und vermitteln dem Körper die Reize der (Außen)welt.

  • Ines Schmidt

    Liebe Nina, mich berühren deine Gedanken sehr. Sie erinnern mich an die Gedanken meines Sohnes. Er starb vor zwei Jahren mit 25 Jahren an ALS. Ich glaube er dachte ähnlich. Ein starker Text!!!! Ich denke du bist eine sehr starke sensible und geistig hellwache Frau. Wenn du magst, schicke ich deine Gedanken über meine Seite Amlebensein weiter, es ist ein berührender Text der Menschen bewegt. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute Nina, herzlich grüßt Ines aus Rostock!

    • Nina

      Liebe Ines!
      Ich freue mich sehr über Deine lieben Gedanken zu meinem Beitrag.
      Durch Deinen letzten Kommentar auf meinem Blog bin ich auf Deine und Pauls Geschichte aufmerksam geworden. Sie hat mich ebenfalls sehr berührt und seitdem verfolge ich mit großem Interesse Dein Herzensprojekt Amlebensein über FB. Ich finde es großartig und bin schon wahnsinnig gespannt auf das Buch.
      Ich würde mich riesig freuen, wenn Du meinen Beitrag auf Deiner Seite teilen würdest!
      Ich wünsche Dir weiterhin viel Kraft für Dein Projekt und würde mich freuen bald mal wieder von Dir zu lesen!
      Herzliche Grüße aus Köln

  • Julez

    Ich bewundere Dich. Nicht nur für das was du bist sondern auch für die Worte die Du immer wieder findest. Tief berührend sind sie. Sie bringen mich dazu inne zu halten… wenigstens für einen Moment… in mich reinzuhören… zu spüren was wirklich wichtig ist.

    • Kathleen

      Liebe Nina,
      ich danke dir für diesen wunderschönen Beitrag, der mir Einblick in dein Innerstes gewährt und mich gleichzeitig an die Grenzen meiner eigenen Ängste und Sehnsüchte führt. In meinem Kopf schwirren unzählige Gedanken wie in einem Mückenschwarm umher. Ich kann sie im Moment nicht sortieren, muss erstmal inne halten und atmen. Hab Dank für deine Offenheit und deinen Mut. Dein Körper mag sich vielleicht nicht mehr bewegen – deine Gedanken und Gefühle, die du so wundervoll ausdrückst, tun es umso mehr! In dir, in mir und sicher in vielen anderen Menschen. Danke liebe Nina!

      Herzlichst, Kathleen.

      • Nina

        Liebe Kathleen,

        hab ganz lieben Dank für deinen wunderbaren Kommentar.
        Mit deinen Worten: “Dein Körper mag sich vielleicht nicht mehr bewegen – deine Gedanken und Gefühle, die du so wundervoll ausdrückst, tun es umso mehr! In dir, in mir und sicher in vielen anderen Menschen.” … hast du mein Herz zum hüpfen gebracht 😉
        Ich freue mich so sehr über deinen und die vielen anderen positiven Kommentare und das euch meine Texte berühren – tief im Herzen! Denn genau an dieser Stelle erkennen wir, dass wir eigentlich doch alle gleich sind und die gleichen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte haben…

    • Nina

      Oh ja liebe Seona, Du triffst es auf den Punkt – genauso ist er gemeint dieser Text, genauso fühlt er sich für mich an!

Kommentar verfassen