Die Kunst des Verlierens

In meinem heutigen Blogbeitrag möchte ich Euch gerne etwas über meine Erkrankung erzählen. Über fachliche Hintergründe und ganz persönliche Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre gesammelt habe. Außerdem möchte ich Euch davon erzählen, wie mich diese Erkrankung die Kunst des Verlierens gelehrt hat und was das eigentlich genau bedeutet.


Progressive Muskeldystrophie

Seit meinem 2. Lebensjahr bin ich an einer progressiven Muskeldystrophie erkrankt. Ich behaupte einfach mal, dass es sich für die meisten von Euch hierbei um zwei Fremdwörter handelt, die Ihr bis dato wahrscheinlich noch nie gehört oder bewusst wahrgenommen habt. Vielleicht ist aber auch der ein oder andere unter Euch dabei, der die beiden Begriffe als medizinische Fachausdrücke kennt, die jedoch keine konkreten Assoziationen oder gar Emotionen hervorrufen. Einige wenige unter Euch werden möglicherweise eine wage Vorstellung davon haben, was sich hinter diesen beiden Begriffen verbirgt, weil sie vielleicht selbst oder ein Familienmitglied davon betroffen sind.

Der Begriff Progression kommt aus dem lateinischen und steht für „Fortschritt“, „Entwicklung“. Man versteht darunter auch das Fortschreiten einer Krankheit (progressiver Krankheitsverlauf) bzw. eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustands. Unter dem Begriff Muskeldystrophie versteht man einen langsam fortschreitenden Muskelschwund.

Die Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) geht in ihren fachlichen Ausführungen schon etwas tiefer ins Detail und bietet folgende Definition:
„Progressive Muskeldystrophie ist die übergreifende Bezeichnung für eine Gruppe sehr verschiedener, chronisch verlaufender Krankheiten der Skelettmuskulatur, die mit einem fortschreitenden Funktionsverlust der Muskelsubstanz einhergehen.“

Ich habe mich beim Lesen der Definitionen gefragt, ob sie beim „unwissenden Leser“ echte Assoziationen und Emotionen hervorrufen und welche Details wohl hängen bleiben. Vielleicht, dass …
… es sich um eine chronische Erkrankung handelt?!
… die Sklettmuskulatur betroffen ist?!
… der Krankheitsverlauf fortschreitend ist?!
… irgendetwas mit den Muskeln und deren Substanz nicht in Ordnung ist?!
… man als Betroffener etwas verliert?

All diese aufgeführten Details beschreiben den fachlichen Hintergrund dieser Erkrankung, doch meiner Meinung nach beinhaltet die Diagnose progressive Muskeldystrophie so viel mehr und geht in ihrer Bedeutung noch viel tiefer!


Von Abschieden und Neuanfängen…

Für mich und viele andere Betroffene ist sie nicht nur eine fortschreitende Erkrankung bei der die Muskelmasse und Muskelkraft immer mehr abnimmt, es ist vielmehr ein schleichender Prozess des Abschiednehmens. Die Erkrankung zwingt uns tag täglich Abschied zu nehmen von so vielen großen und kleinen Dingen: von körperlichen Fähigkeiten und Funktionen, von Zukunftsvorstellungen, von Wünschen und Bedürfnissen, von Möglichkeiten der sozialen Teilhabe, von Oberflächlichkeit und Eitelkeiten, usw.

Ich spreche hier von Dingen, die für die meisten Menschen auf diesem Planeten völlig selbstverständlich sind, über die man in der Regel noch niemals nachdenkt, weil man sie eben einfach tut. Genau hier möchte ich ansetzen, um Euch eine Idee davon zu vermitteln, was es heißt mit dieser Diagnose zu leben.

Versucht Euch einmal vorzustellen wie es wäre, wenn Ihr…
… von einem auf den anderen Tag nicht mehr laufen und Euch nur noch mit Hilfsmitteln wie Gehstock, Rollator, Rollstuhl und Co. fortbewegen könntet?
… nie wieder rennen, nie mehr hüpfen oder gar tanzen könntet?
… Euch nicht mehr selbstständig waschen, anziehen oder auf die Toilette gehen könntet, sondern bei all diesen Tätigkeiten auf fremde Hilfe angewiesen wäret?
… im Bett liegend Euren eigenen Körper nicht mehr selbstständig bewegen oder gar umpositionieren könntet?
… den Kopf nicht drehen oder anheben könntet, wenn er unbequem liegt?
… die Arme nicht mehr anheben könntet, um Euch die Haare zu einem Zopf zusammen zu binden oder um Euch die Brille, die auf der Nase verrutscht ist, wieder zurecht zu rücken?
… Euch nicht selbstständig kratzen könntet, wenn es irgendwo juckt oder eine Mücke Euch im Visier hat?
… permanent frieren würdet, weil die eigenen Muskeln nicht mehr für die nötige Körperwärme sorgen können?
… nicht in schicken Klamotten rausgehen könntet, sondern permanent eingehüllt sein müsstet in Decken, Schals, Handschuhe oder Thermositzsäcke, um irgendwie warm zu bleiben? (Das gilt übrigens für Herbst, Winter und Frühling und kalte Sommer)
… das Glas nicht aus dem Schrank holen könntet, obwohl Ihr Durst habt?
… jedes noch so kleine Bedürfnis in Worte kleiden müsstet, damit jemand anderes es für Euch in die Tat umsetzt?
… die eigenen Worte zählen müsstet, weil nicht genügend Luft zum sprechen da ist und das Atmen so schwerfällt?
… auf die Nutzung eines Atemgeräts angewiesen wäret, damit Eure Atemmuskulatur sich wieder regenerieren kann?
… nie mehr Auto fahren könntet? (von Fahrrad fahren, Inline Skaten, Tanzen, Klettern und Co. ganz zu schweigen)
… unfreiwillig alle Blicke auf Euch zieht oder ungewollt im Mittelpunkt steht, sobald Ihr das Haus verlasst oder einen fremden Raum betretet?
… ohne die dauerhafte Begleitung und Unterstützung durch einen Angehörigen, Freunde oder Assistenz nicht überlebensfähig wäret?

Ich könnte diese Liste beliebig fortführen. Sie zeigt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben mit Muskeldystrophie. Die Liste ist niemals abschließend, denn die Erkrankung kennt keinen Stillstand! Bei jedem Betroffenen schreitet sie unterschiedlich schnell und intensiv voran. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass nicht alle Muskeln gleichzeitig von der Krankheit betroffen werden. Die Schädigung beginnt meist in rumpfnahen Muskeln des Beckengürtels oder des Schultergürtels, manchmal aber auch im Gesicht, in den Händen bzw. Unterarmen oder in den Füßen bzw. Unterschenkeln. In späten Erkrankungsstadien kann sie sich auf die gesamte Skelettmuskulatur, selten sogar auf die Atemmuskulatur ausdehnen.

Im Gegensatz zur multiplen Sklerose ist bei den progressiven Muskeldystrophien das Nervensystem nicht betroffen. Die Funktion von Blase und Mastdarm, der Sinnesorgane, die Gefühlswahrnehmung und die geistige Leistungsfähigkeit werden meist nicht beeinträchtigt. Den körperlichen Abbau erlebt man also bei vollem Bewusstsein, im Besitz aller mentalen Kräfte.

Ihr denkt Euch jetzt vielleicht oh mein Gott, wie kann man das nur aushalten und ertragen, geschweige denn damit leben?! Ich sage Euch man kann es, weil man es muss. Auf ein Tief, folgt wieder ein Hoch. Trauerarbeit ist wichtig. Es geht immer irgendwie weiter, auch wenn die eigene kleine Welt manchmal stillzustehen scheint. Die Poetin Elisabeth Bishop schrieb in einem ihrer Gedichte dazu sehr treffend: „Die Kunst des Verlierens studiert man täglich. So vieles scheint bloß geschaffen, um verloren zu gehen und so ist sein Verlust nicht unerträglich{…}.“           .

Wie alles im Leben hat auch diese Erkrankung zwei Seiten. Sie lässt mich vieles bewusster wahrnehmen und erleben. Sie schenkt mir eine gewisse Reife und eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Dingen, die für viele Menschen nebensächlich sind. Sie hat eine tiefe Liebe und viele wunderbare Menschen in meinem Leben hervorgebracht, wofür ich sehr dankbar bin. Und sie folgt einem simplen Naturgesetz: auf einen Abschied, folgt auch wieder ein Neuanfang!

36 Comments

  • Ines Schmidt

    Liebe Nina, sehr eindrucksvoll hast du beschrieben, wie viele vermeintlich selbstverständlich zu verrichtende Dinge man aufgrund einer progressiven Muskeldystrophie nicht mehr tun kann. Unweigerlich habe ich dabei an Paul gedacht. In meinem Buch beschreibe ich in demTeil von Leid und Mitleid genau wie du diese Alltaglichkeiten. Als Nichtbetroffener Mensch ist es wirklich schwer denke ich, dieses Gefühl des Verlustes ganz realistisch nach zu empfinden. Für ganz kurze Zeit gelingt es mir vielleicht, aber dann bittet mich mein Verstand, schnell wieder die Realität wahrzunehmen um nicht durchzudrehen.
    Ich werde deine Gedanken wieder teilen mit der Hoffnung, dass sich der Eine oder die Andere ein paar Minuten Zeit nimmt für deine Worte. Sei ganz herzlich gegrüßt von Ines. 😊

  • Angela Aben

    Liebe Nina, dein Text hätte zu keinem passenderen Zeitpunkt kommen können. Deswegen habe ich wohl auch eine Weile gezögert,ihn zu lesen. Obwohl wir doch alle schon immer mit dem Verlieren und dem Wissen um dessen kontinuierliche Fortsetzung leben, merke ich immer wieder und gerade jetzt, dass vor allem das Loslassen besondere Kraft erfordert. Aber ich weiß, dass ich damit nicht allein bin. Danke Dir dafür! Sei feste umarmt!

    • Nina

      Liebe Angela,
      wie schön, dass mein Text Dir zum richtigen Zeitpunkt in die Hände gefallen ist. Ich persönlich glaube ja nicht an Zufälle 😉
      Ich denke er sollte Dich genau in dem Moment erreichen, in dem Du dafür offen warst!
      Meiner Meinung nach ist das Loslassen bzw. das Nicht-Anhaften eine der größten Herausforderungen unseres Lebens. Wir alle werden damit konfrontiert, die einen früher, die anderen zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben. Besinne Dich auf das Hier & Jetzt und lass vergangenes los. Ich kenne Dich und weiß Du bist stark, Du wirst diese Herausforderung meistern!

  • Isabell Hebestreit

    Hallo.Oh man ja.was soll man sagen.zufällig auf deine Seite gekommen!!??Ich habe zwar keine typische muskelerkrankung.ich habe nur durch fehldiagnose und falsche Medikamente durch ein Virus im Rücken meine Muskelkraft verloren.sollche Seiten wie deine hier machen mir aber auch Hoffnung. Und für dich….Ich wünsche dir alles gute.Nicht Aufgeben. LG aus Nordhorn Isabell Hebestreit

    • Nina

      Liebe Isabell!
      Ich freue mich über Deinen Kommentar. Wie schön, dass Du aus meinen Worten Hoffnung schöpfen kannst! Aufgeben? Niemals! Dafür ist das Leben viel zu schön, auch mit Muskelerkrankung oder grade deswegen? Diese Frage kann jeder nur für sich selbst beurteilen. Mein Motto: Glück ist das, was wir selbst daraus machen! ????
      In diesem Sinne alles Gute auch für Dich!

    • Nina

      Danke für Deinen tollen Blogbeitrag, der mich sehr beeindruckt hat! Ich finde es sehr spannend durch deine Schilderungen einmal die Gefühle/Erfahrungen des „nichtbetroffenen“ bzw. „gesunden“ Partners gespiegelt zu bekommen. Das eröffnet noch einmal eine ganz neue Perspektive auf das Thema Partnerschaft & Behinderung! Danke dafür und weiter so mit Deinem Blog!

  • Joachim Köhring

    Liebe Nina, danke für deinen Blog!

    Du hast die Fähigkeit sehr emotional und gleichzeitig ohne große Tränendrüsendrückerei, das Leben eines Muskelkranken zu beschreiben. Ich finde mich in deinen Beiträgen selbst immer wieder. Auch wenn meine Erkrankung später ausgebrochen ist (ich habe FSHD) und der Verlauf langsamer von Statten geht, sind die Erfahrungen und die Gefühle oft die selben. Ich wünsche dir, dass du deinen Mut und deine Zuversicht noch lange behalten wirst und uns mit deinen Beiträgen begleitest.

    • Nina

      Lieber Joachim!
      Vielen Dank für Dein positives Feedback. Tut es nicht gut zu erkennen, dass man mit diesem Schicksal nicht allein ist?! Mir hilft das immer sehr und deswegen teile ich so gerne meine Erfahrungen. Ich hoffe, dass ich damit noch viele Menschen erreichen kann!
      Auch für Dich alles Gute!

  • Claudia Lück

    Hallo Nina, ein toller Artikel! Du sprichst (schreibst 😉 vielen Betroffenen aus der Seele, auf eine angenehme Art, wie ich finde. Sachlich, ehrlich und nicht gefühlsduselig. Die Zeilen geben mir persönlich viel, ich finde mich sehr darin wieder und ich werde diese sicher noch öfter lesen, wenn das berühmte “Tief” mal wieder über mich herfällt. Ich hoffe, ich komme auch bald an dem Punkt an, an welchem ich Dich sehe – nämlich die Krankheit anzunehmen mit all ihren üblen Seiten (wie Du so treffend schreibst: “… weil man es muss”.) – und dabei trotzdem eine so positive Ausstrahlung zu haben, aus welcher andere Menschen (sogar gesunde) noch Kraft schöpfen können. Vielen Dank für den tollen Artikel und weiterhin viel Kraft und Lebensfreude!

    • Nina

      Liebe Claudia!
      Während ich Deinen Kommentar lese bekomme ich Gänsehaut. Ich freue mich sehr, dass Du Dich in meinen Beiträgen wieder findest, denn das war mein Ziel! Noch mehr freue ich mich jedoch darüber, wenn meine Beiträge Mut und Hoffnung spenden, denn beides können wir als Betroffene gut gebrauchen. Bei mir war es auch ein langer Weg, dort hinzugelangen, wo ich heute bin. Ich denke, es bleibt eine lebenslange Aufgabe, die Erkankung mit all Ihren Konsequenzen zu akzeptieren und dabei mit sich selbst zufrieden zu bleiben. Mir hilft es sehr achtsam im Moment zu leben und nicht an der Vergangenheit oder Zukunft anzuhaften!
      Ich wünsche Dir alles Gute und viel Kraft!

  • Kathleen Lebsa

    Liebe Nina, vielen Dank für deinen Beitrag und die Einblicke! Ich bin tief berührt. Danke!! Ja, du bist wirklich eine tolle, starke Person!! Alles Liebe für dich!!

  • Julez

    Toller Beitrag kleine Schwester! Freue mich schon auf den nächsten! An Dir ist die letzten Jahre ein Schreiberling verloren gegangen.. Habe ich Dir ja immer gesagt ????

  • Anja

    Nina, ich bin echter Fan und hab, besonders im kollegenkreis, schon ganz viel Werbung gemacht!????
    Auch wenn man etwas mehr mit der Diagnose zu tun hat, kann man sich nur im Ansatz versuchen vorzustellen, was das wirklich im einzelnen bedeutet und auslöst.
    Durch deine authentischen, plastischen Schilderungen machst du mir das jedes mal wieder viel bewusster…
    Ganz lieben Gruß!

    • Nina

      Vielen Dank Anja für Dein positives Feedback! Ich freue mich sehr, dass es mir gelingt meinen Lesern echte “Emotionen und Assoziationen” zu vermitteln. Das ist das was mich antreibt!

  • Daniela Katscher

    Hallo Nina! Du hast wirklich eine tolle Art zu schreiben! Ich versinke beim lesen und bin schon fast traurig, wenn der Artikel zu Ende ist.
    Du öffnest einem auf eine wunderbare Art die Augen für die kleinen Dinge im Leben! Danke!

    • Nina

      Liebe Jule! Das kann ich nur zurückgeben – Du bist auch ein ganz besonderer Mensch! Lieben Dank für Deine positive Rückmeldung!

  • Mairin

    Es berührt mich sehr was du geschrieben hast Nina. Besser hätte man es nicht beschreiben können. Bin sehr froh, dass wir uns kennengelernt haben und hoffe wir sehen uns mal wieder❤️

    • Nina

      Liebe Mairin! Schön das Du Dich in meinen Worten wiederfinden kannst. Vielleicht geben sie in “dunklen Stunden” Kraft und Hoffnung weiter zu kämpfen. Es lohnt sich!

  • Britta Peddinghaus

    Liebe Nina,
    Nun auch hier und nicht nur bei Facebook.
    Ich kann meine Wertschätzung für Dich gar nicht in Worte fassen . . . Wunderbar geschrieben! Danke für die tiefen Einblicke! Du bist unglaublich und ich mag Dich sehr! ????

    • Nina

      Liebe Britta! Ich fühle mich sehr geehrt durch Deine herzlichen Worte. Schön das wir uns kennengelernt haben und gemeinsam die Welt ein Stückchen besser machen ????

  • Roxy

    Einfach spannend und super interessant geschrieben 🙂
    Es ist ein wenig so, als würde ich während des Lesens bei dir sein und durch deine Augen schauen.
    Du bist einfach inspirierend!
    Fühl dich gedrückt, liebste Grüße,
    Roxy

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